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Ein kleines Foto – und so viel steckt dahinter

Hier zunächst einmal das Foto. Es zeigt ganz offensichtlich eine Schlange von Menschen, die sich vor einem Schuhgeschäft gebildet hat. Es sind nur Frauen, sie sind sommerlich gekleidet, das Foto wurde ja auch im Juli aufgenommen, und sie haben höchstens eine Handtasche bei sich. Ganz normal also, vielleicht damals in der DDR, wo man anstehen musste, wenn es etwas Schönes gab.

Aber das Foto befindet sich im Fotoalbum meines Vaters, das er über seine Kriegszeit angelegt hat. Dort im Buch gibt es eine Unterschrift, die besagt, dass dieses Foto in Lemberg (heute Lwiw, in der westlichen Ukraine) aufgenommen wurde. Immer noch alles ganz normal. Doch eines Tages kam ich auf die Idee, das Foto aus dem Album zu nehmen und auf die Rückseite zu schauen. Siehe dieses Foto.

Dort steht 24.7.42 9:30 Uhr Judenkolonne in Przemysl.

Das polnische Przemysl liegt 115 km von Lemberg entfernt, wo mein Vater auf der Fahrt nach Lemberg durchgekommen war.

Mein Vater hat immer alles sehr korrekt aufgeschrieben, dies ist das einzige Foto, wo Vorder- und Rückseite nicht überein stimmen. Also fing ich an zu recherchieren. Und fand – natürlich wieder mit Hilfe des tollen Forums der Wehrmacht – heraus, dass es hier um eine sehr brenzlige Situation ging.

Wikipedia sagt (Kurzfassung):

Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in Przemyśl etwa 24.000 Juden, die vollständig in den polnischen Alltag integriert waren. …

Nach Bruch des Ribbentrop-Molotow-Paktes besetzten deutsche Truppen am 28. Juni 1941 erneut Przemyśl. Zu diesem Zeitpunkt lebten dort etwa 16.500 Juden. Umgehend begann man damit, unter der jüdischen Bevölkerung Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Eine Registrierung der jüdischen Bevölkerung wurde vorgeschrieben. Die Gestapo ordnete an, dass die jüdische Bevölkerung nun auch in ganz Przemyśl den Judenstern tragen müsse, um sie dadurch öffentlich zu brandmarken. Jüdisches Eigentum musste zum Teil abgegeben werden, jüdische Studenten wurden gezwungen, die Straßenreinigung sowie die Müllabfuhr zu übernehmen. In den Straßen wurden Plakate aufgehängt, die die Juden als „Ungeziefer“ oder „Läuse“ beschimpften. …

Am 14. Juli 1942 (also 10 Tage vor dem Foto) wurde bekannt gegeben, dass in Przemyśl ein jüdisches Ghetto im Stadtteil Garbarze eingerichtet werden soll (nahe diesem Schuhgeschäft). Das Ghetto wurde inzwischen von 20.000 bis 24.000 Juden bewohnt. Am 26. Juli wurden erneut Zwangsarbeiter rekrutiert, am Folgetag 6.500 Juden ins Vernichtungslager Belzec deportiert. Am 31. Juli sowie am 3. August 1942 verließen Transporte mit jeweils 3.000 Juden die Stadt in Richtung Belzec. Die Transportkosten wurden den Juden in Rechnung gestellt. Zusätzlich zwang man die noch verbliebenen Juden, den größten Teil ihres Geldes der Gestapo zu übergeben. Das Ghetto wurde verkleinert, wobei die Juden für die Kosten des Stacheldrahtes, der das Lager umgab, aufkommen mussten. Ende August 1942 wurden von der Gestapo in Przemyśl 100 Juden ermordet. …

Man kann also davon ausgehen, dass die jungen Frauen auf dem Foto für Zwangsarbeiten rekrutiert wurden. Als Erklärung für die unterschiedliche Bezeichnung vorne und hinten denke ich mir, dass der Text auf der Rückseite zeitnah und korrekt geschrieben wurde. Das Fotoalbum wurde aber vielleicht erst nach dem Krieg geklebt, also in der Zeit, wo man nachweisen musste, dass man kein Nazi war. Und deshalb kam wohl die harmlose Unterschrift „In Lemberg“ zustande, also noch nicht einmal die richtige Stadt.

Was mich am meisten erschüttert, ist, dass die Juden auch noch selbst für die Kosten der Zwangs-/Vernichtungsmaßnahmen aufkommen mussten. Was mich aber noch mehr erschüttert, ist, dass Teile in Deutschland schon wieder auf dem gleichen Weg sind.

Das Kriegstagebuch kann hier bestellt werden:

http://kriegstagebuch.edith-kohlbach.de/