Schon lange reise ich durch Marokko und zu Beginn noch nicht als Autorin. Dabei habe ich viele nette Leute kennengelernt und vor allem in Agdz viel Zeit verbracht. Es war einfach eine wundervolle, lockere Atmosphäre dort auf dem Camping an der Kasbah Kaid Ali. Ich weiß noch, wie ich das erstemal ankam, es war 1989, und mein Zelt aufbauen wollte, die Jungs haben das sofort verhindert und gemeint, nein, wir trinken erstmal einen Tee und nachher helfen wir dir. Und dann bleibst du drei Wochen. Ich habe sie ausgelacht, niemals bleibe ich so lange, drei Tage sind das Maximum. Doch die Jungs hatten recht, ich blieb so lange und kam immer gerne wieder. Und wieviele wundervolle Abende gab es, wo wir alle im Kreis saßen, Mbarek, Hassan, Abdelilah, Hamid, und nächtelang diskutierten. Es war einfach schön.
Im Jahr 1995 dann war ich zur Hochzeit eingeladen. Mbarek und sein Bruder Aziz sowie Cousin Hamid feierten vor der eindrucksvollen Kulisse der alten Kasbah. Ich kam mit einem Freund und wir blieben einige Tage. An einem Abend verpetzte mich Anouar, der 10 jährige Sohn von Mohammed, einer der Söhne des Kasbahbesitzers und Bruder von Mbarek. Ich möchte hier nicht sagen, um was es ging, aber es folgte deshalb ein ziemlicher Streit mit dem Freund, der mich begleitete. Das hat sogar die Hochzeitsfeier ein wenig überschattet, war schon heftig.
Nun sind 25 Jahre vergangen seitdem. Ich traf Anouar im letzten Jahr in Ait Benhaddou, wo er Manager in einem Riad war. Er lud mich ein, doch mal dort zu übernachten. Also rief ich ihn an. Anouar sagte, nein, dort arbeitet er nicht mehr. Aber warum wollte ich denn nicht in die Kasbah Rayane gehen, die sein Cousin Rachid leitet, Sohn von Hamid, der damals zu dem Kreis gehörte. Ich sah mir die Fotos im Internet an und war begeistert. Kam an, wurde freundlich begrüßt, bekam das schönste Zimmer, und zu allem Überfluss war der einzige andere Gast ein deutscher Motorradfahrer. Wir hatten einen netten Abend, aber dann fiel jeder erschöpft in sein Bett, denn der Tag war jeweils hart gewesen, viele Kilometer gefahren.
Es gefiel mir so gut, dass ich gerne noch einen Tag blieb. Am Abend tauchte dann plötzlich Anouar auf, in Begleitung von Freunden. Wir saßen zusammen, und ich konnte sogar 25 Jahre alte Familienvideos vorführen, was den Jungs sehr gefiel. Sogar Anouar war im Film kurz zu sehen, damals 10. Wir tauschten alte Geschichten aus und ich sagte, weißt du, warum ich dich nie vergessen kann unter den vielen Mitgliedern der großen Familie. Er zuckte nur mit den Schultern, wusste nicht warum. Ich sagte, du hast mich doch damals verpetzt, worauf dieser Streit folgte. Anouar sagte, nein, daran kann er sich nicht mehr erinnern.
Aber plötzlich ging ihm ein Licht auf. In späteren Jahren sagten seine Onkel bei ähnlichen Gelegenheiten noch oft zu ihm, mach es nicht so wie damals bei Edith. Anouar war zwar schon immer der lebhafte, vorlaute Junge, aber ihm war wirklich niemals klar, was seine Onkel damit meinten. Und plötzlich blickte er durch. Das war also sein Vergehen, das die Familie – und ich – niemals vergessen hatte, Anouar, der mich bei meinem Freund verpetzte.
Es gab Abendessen und danach setzten wir uns alle im Hof zusammen. Ich spendierte eine Flasche Wein und die Diskussion ging wirklich vom Hundertsten zum Tausendsten, inklusive langer Abhandlung über Religion und das Familienleben des Königs.
Und da plötzlich schaute ich mir selbst wie im Film zu. Ich saß in dieser netten Runde genauso wie 25 Jahre zuvor, derselbe schöne Abend und ich bin ja immer noch die gleiche. Aber die Jungs! Sie waren ja komplett ausgetauscht, waren genau eine Generation weiter. Das ist schon ein merkwürdiger Eindruck. Einerseits wird man sich bewusst, wie alt man jetzt schon ist, andererseits fühlt man sich doch noch genauso jung wie damals.
Solche schönen Abende möchte ich gerne noch viele erleben.