Ann

In diesem Jahr sind es genau 20 Jahre, dass ich mein zweites Heim in Florida gefunden habe. Ich lebe in einer kleinen Sackgasse mit wenigen Anwohnern. Am Anfang hatten wir alle ein gutes Verhältnis, setzten uns auch privat zusammen, aber über die Jahre gab es neue Leute und dieses nette Beisammensein ging verloren. Ann gehört noch zu den „Alten“. Eng ist unser Verhältnis nicht, aber ich war schon bei ihr zum Thanksgiving-Essen eingeladen. Doch sie genauso wie andere ältere Nachbarn in der Straße neigen in der letzten Zeit dazu, sich ganz in ihrem Haus zu vergraben, man sieht sie nicht im Garten und sie verlassen das Haus nur zum Einkaufen.

Als ich damals einzog hatte Ann’s Mann noch gelebt, war aber krank. Sie hat ihn liebevoll gepflegt bis zu seinem Tode, damit war sie sogar schon zum zweiten Mal Witwe. Nach einiger Zeit tauchte dann ein neuer Freund auf, Eddie, ein richtiger „Redneck“. Republikaner und Trump-Fan durch und durch. Entweder fuhr er knatternd auf seiner Harley vor oder im großen Pickup Truck geschmückt mit der USA- und der Florida-Flagge. Innen war sicher auch ein Gewehr, ein richtiger Redneck also. Übrigens sind beide in den Siebzigern.

Diesmal also sah ich Eddie nicht und Ann vergrub sich im Haus. Ich weiß aber auch, dass sie öfter mal kränkelt und wartete schon auf eine Gelegenheit, ihr meine Hilfe anzubieten. Die kam heute. Über Nacht hatten wir einen gewaltigen Sturm und der abgestorbene Palmstamm vom nicht bewohnten Nachbargrundstück war quer über Ann’s Einfahrt gefallen und nahm ihr so die Möglichkeit, mit dem Auto raus zu fahren. Zum Glück schrammte die Palme haarscharf an ihrem Gartenzaun entlang und hat nichts beschädigt. Wenigstens nichts menscheneigenes.

Ich ging also zu Ann und bot ihr meine Hilfe mit der Motorsäge an. Zunächst aber war ich erschrocken, wie sie aussieht. Sie ist alt geworden. Ann war immer schick, aber sie raucht auch viel. Trinkt wohl eher mäßig. Klar fragt man ja hier immer, wie geht es. Bekommt auch standardmäßig die Antwort, alles gut. Aber diesmal erzählte Ann doch etwas mehr. Zunächst einmal, Eddie ist tot! Gestorben an Corona. Sie war als erste infiziert, hat Eddie angesteckt, der kam 7 Tage später ins Krankenhaus und starb nach weiteren 19 Tagen. Ann war nicht so schwer erkrankt, dass sie ins Krankenhaus musste, aber sie ist noch heute geschwächt und hat viele Probleme. Damit ist sie tatsächlich die erste Person in meinem Bekanntenkreis, nach 18 Monaten Pandemie, die krank ist oder wo sogar jemand gestorben ist. Ich hatte tatsächlich vorher noch niemanden persönlich gekannt.

Klar habe ich Ann gefragt, ob sie geimpft war. Die Antwort konnte ich mir natürlich selbst geben. Als glühende Trump-Fans waren sie selbstverständlich beide nicht geimpft. Tja, was soll man da sagen.

Man greift zur Motorsäge und schafft den Baumstamm beiseite. Wie schon zuvor angedeutet, ist durch das Umfallen kein Mensch zu Schaden gekommen, aber es haben doch etliche Lebewesen ihr Heim verloren. Dieser tote Baumstamm war sehr beliebt bei den Vögeln, die sich darin ihr Nest gebaut haben. Und auch ein Bienenvolk betrachtete es als seine Heimat. Nun fliegen sie völlig verwirrt herum und versuchen, die Situation zu meistern.