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Rudolf F. Staritz

Seit Wochen bin ich nun schon mit dem Thema Familiengeschichte und Kriegstagebücher beschäftigt. Es erfüllt mich vollkommen und ich möchte einfach mehr über die Tätigkeit meines Vaters bei der Abwehr erfahren. Er hatte wenig darüber erzählt und ich habe auch nie gefragt, zunächst war ich zu jung dafür und später gedanklich doch sehr weit von meiner Familie entfernt. Doch nun nach der vollständigen Entzifferung der Tagebücher tauchen Fragen auf, und niemand ist da, um sie zu beantworten. Der Krieg brach 1939 aus, wer ihn noch als Soldat erlebt hat, müsste also spätestens 1920 – 1923 geboren sein und wie viele gibt es davon heute noch? Und sind auch noch in der Lage zu erzählen.
Ich suchte das Internet ab, fragte nach im Forum der Wehrmacht, aber wirklich handfeste Informationen fand ich nicht. Ja, es gab einen Organisationsplan. Aber was haben die Funker wirklich gemacht. Canaris, der berühmte Abwehrchef, ist in aller Munde, aber was hat so ein kleiner Funker gemacht? Mein Vater durfte darüber in seinen Tagebüchern ja nichts berichten. Und im Forum gibt es alle möglichen Informationen, aber über die Abwehr, nichts.
Ich war entmutigt und suchte mit immer neuen Schlüsselwörtern. Und traf irgendwann mit einer Kombination, die ich nicht mehr nachverfolgen kann, auf eine PDF-Datei von Rudolf F. Staritz. Das war es! Eine 100seitige Abhandlung über die Technik und Verfahren der Spionagefunkdienste. Das war genau das, was ich suchte und hier waren endlich die Orte genannt, die ich aus dem Tagebuch kannte. Berlin – Stahnsdorf zum Beispiel als Hauptstelle. Ich war begeistert und konnte anhand dieses Textes entsprechende Fußnoten in das Tagebuch einfügen, so dass die Leser nach mir besser Bescheid wissen, um was es eigentlich geht.
Doch je mehr ich mich darin vertiefte, desto mehr Fragen tauchten auf. Wie schön wäre es, wenn ich jemand fragen könnte. Wenn ich diesen Staritz fragen könnte. Auf der Internetseite gab es keinen Kontakt-Link. Aber ein Nachwort der Publikation war von Herrn Staritz selbst unterschrieben, mit der Angabe „Bamberg im April 2018“. Aha, es klingt blöd, aber man sagt sich unwillkürlich: da hat er noch gelebt. Und ein Blick ins Telefonbuch zeigt eine aktuelle Nummer.
Eine Stimme meldet sich, frisch, jung. Der Sohn? Ich frage: Herr Staritz? Ja sagt er.
Er ist es höchstpersönlich und topfit, 97 Jahre alt. Wir tauschen unsere Informationen aus und schnell stellt sich heraus, mein Vater und er waren zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort. Er kennt zwar nicht den Namen, aber alles, wovon mein Vater so geschrieben hat. Rudolf Staritz ist nicht nur der letzte lebende Zeitzeuge der Abwehr, er war auch sein Leben lang an diesem Thema interessiert, hat recherchiert, Bücher geschrieben, Sammlungen aufgebaut. In zwei Wochen wird er in Berlin bei der ARD sein, um wieder einmal bei einer Dokumentation von seinen Erlebnissen zu berichten.
Ein Wahnsinns-Gespräch entwickelt sich. Und ganz klar ist er dringend an den Tagebüchern interessiert. Ich frage ihn, ob er einen PC hat. Hat er, sagt er, aber kein Internet. Bei dem, was er über die Spionage weiß, will er kein Internet im Haus haben. Aber sein Sohn hat einen Anschluss und ich schicke die Abschrift der Bücher an den Sohn. Morgen will sich Herr Staritz das durchlesen und er hofft, dass er sogar noch neue Informationen darin findet, die ihm bei der Dokumentation hilfreich sein können.
Noch immer haben wir ja einige Lücken in der Abschrift der Bücher. Keine kompletten Sätze, sondern einzelne Wörter, vor allem auch Namen, die auch meine hilfreichen Spezialisten nicht lesen konnten. Ich bin sicher, er kann es. Denn nicht nur kann er natürlich Sütterlin, er weiß auch die Hintergründe und kennt Namen. Ziemlich schnell schlage ich also vor, dass ich ihn besuche. Er freut sich sehr und meint, allzu lange darf ich damit nicht warten in seinem Alter. Meint, dass er zwar immer noch Auto fährt, aber nicht so lange Strecken. Das ist ja das Mindeste was ich tun kann, dass ich zu ihm fahre. Nun warte ich, bis er die Bücher gelesen hat, dann machen wir etwas aus. Ich bin ja so aufgeregt.

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Link zu Wikipedia

Das Kriegstagebuch ist inzwischen erschienen. Zu bestellen hier im Shop.

Nachtrag zur Familiengeschichte

Zu diesem Beitrag habe ich Antworten erhalten, aber da ich noch keine Kommentarfunktion ermöglicht hatte füge ich den Text hier ein:

Hallo Edith,

Deine Schilderung/Bewertung entspricht durchaus den beschriebenen Ereignisabläufen der Tagebücher. Text und Wort der Feldpostbriefe und Tagebücher sind nun mal ein Spiegel der verschiedenartigsten Erlebnisse dieser Generation, und jeder erlebte sie auf seine Weise. Wie soll es auch anders sein, sie konnten sich ihre Einheit, ihr weiteres Leben nicht aussuchen. Die Einen hatten Glück und lebten, wie Gott in Frankreich, im wahrsten Sinn des Wortes. Andere lagen an der Ostfront bei – 30° monatelang in Erdbunkern mit erfrorenen Gliedmaßen und hungerten. Viele kamen überhaupt nicht mehr nach Hause. Krieg ist immer ungerecht, die Abläufe gehorchen eigenen Gesetzen, fernab menschlicher Logik. Vielleicht ist es gerade diese Ungerechtigkeit, die deine Freundin empfindet, und die sie so verstimmt. Eventuell genügt ihr ein Hinweis in deinem Text, der relativiert und auf genau diesen Aspekt hinweist.

Guten Morgen, Edith,

ich beschäftige mich ja nun schon einige Jahre mit dem Thema 2. Weltkrieg, mit dem Krieg an sich weniger, mehr mit den Menschen in ihm. Und ja, ich habe schon viele Tagebücher und noch mehr Feldpostbriefe gelesen. Einfach weil ich verstehen will, wie die Menschen damals „tickten“, was sie zu sagen hatten, was sie fühlten, warum sie so handelten wie sie handelten. Ich habe Menschen der unterschiedlichsten Couleur dabei kennengelernt, vom hochrangigen SS-Offizier, der lyrische Gedichte schrieb, von einer Mutter mit Kindern, die einer anderen Frau den Tod wünschte, von Soldaten, die in Stalingrad festsaßen und wußten, daß sie die Heimat nicht mehr wiedersehen werden. Es gibt unzählige Beispiele. Aber die allermeisten haben gemein, daß die im Krieg stehenden Soldaten – aber auch ihre Familien – immer positiv, fast möchte man meinen oberflächlich, ihre Gedanken zu Papier brachten. Was hätten sie auch sonst anderes schreiben sollen? Die junge Frau mit Kindern daheim mit Gruselgeschichten über Bomben, Gefechte oder Tote erschrecken? Nein, das haben die wenigstens getan – und wenn, dann höchstens andeutungsweise.

Ich kann Deinen Vater gut verstehen, daß er fast ausschließlich nur die positiven Dinge aus seinem Soldatenleben notiert hat. Denn ich bin mir ziemlich sicher, daß er auch weniger schöne Erlebnisse hatte und Dinge gesehen hat, über die man besser nicht spricht. Dieses Verdrängen war ganz einfach eine Art der Verarbeitung. Und sich dann an die schönen Dinge zu erinnern, half ihm vermutlich über das weniger Schöne hinweg. …

Über die Gründe Deiner Freundin kann ich natürlich nur mutmaßen. Vielleicht rühren sie aus dem Verlust ihrer Familie her, weil ihr Vater es nicht „so gut“ hatte und an der Front saß und dort sein Leben lassen mußte. Aber dieses Schicksal hätte auch Deinen Vater treffen können. Er hatte ganz einfach nur Glück, nicht mehr und nicht weniger. Jeder kriegstaugliche Mann wurde Soldat, aber wohin er kam, das entschieden andere über ihn.

Edith, das Thema ist wirklich sehr vielschichtig und komplex, mit Worten gar nicht so einfach zu fassen, es füllt ganze Abende. Wichtig ist doch nur, daß wir uns mit unserer Vergangenheit, mit unserer Familie, unseren Wurzeln und dem „woher komme ich?“ auseinandersetzen. Und je früher wir das tun, umso besser.

Hier also nochmal von mir: Ich denke, dass ich sehr realistisch und objektiv berichtet habe, was mein Vater in den Tagebüchern schrieb und wie das auf mich wirkte. Ich war mehr als erstaunt, dass er offenbar so viel Freizeit hatte und auch, dass es wie eine Art Reisebeschreibung gewirkt hat. In den Büchern wird ein ganz anderer Mensch deutlich, als der, den ich gekannt habe. Aber die beiden Beiträge oben von Menschen, die viele Tagebücher kennen, zeigen ja, dass die meisten Soldaten nur das Gute aufschrieben.

Keineswegs möchte ich auf all die herab sehen, die Angehörige in dem Krieg verloren haben. Der Krieg war schrecklich, ich bin erst 1947 geboren, aber meine Mutter erzählte so viel von den Bombennächten, dass sie mir schon fast realistisch erschienen und ich immer Angst hatte, wenn draußen laute Geräusche erklangen. Mein Vater kam äußerlich unversehrt zurück (innerlich nicht), viele andere nicht. Das tut mir leid. Wir können es nicht mehr nicht ändern. Wer es hätte ändern können, das wäre das Volk gewesen, vor dem Krieg, das die Augen hätte aufmachen sollen und gegen die Nazis einschreiten. Aber alle haben an „ihren Führer“ geglaubt, sind ihm ins Verderben gefolgt. Das ist schlimm und sollte uns gerade heute eine Lehre sein.

Zufall oder was

Ich bin heute seltsam in eine frühere Zeit versetzt. Schreibe ja an meiner Familiengeschichte. Es ist merkwürdig, wie die aktuellen Ereignisse heute direkt mit meiner Familiengeschichte in Berührung kommen. Erst schrieb ich über den Nürburgring, erwähnte wie gefährlich er in meinen 1950ern war, und wie sehr sich Niki Lauda nach seinem schweren Unfall dort für einen sicheren Ring eingesetzt hat. Heute Abend in den Nachrichten dann die Meldung, Niki Lauda ist gestorben. Schon seltsam, wo ich kurz zuvor seinen Namen niedergeschrieben habe.

Dann kam ich heute an die Zeit, als ich meinen Mann kennenlernte, als wir unsere Träume hatten. Es war in den wilden 1960ern, als wir frei sein wollten. Ich gehörte voll zur Flower-Power Zeit, kämpfte gegen meine Eltern, wollte über mein eigenes Leben bestimmen. Meine großen Idole waren Sonny & Cher. Ich nähte Jochen und mir Kleidung nach ihrem Vorbild, denn so was konnte man damals nicht kaufen. Und dann machte ich heute Abend den Fernseher an und es läuft ein alter Film mit Cher. Unglaublich. Was jetzt noch fehlt ist eine Dokumentation über die Rolling Stones mit dem Gitarristen Brian Jones. Ich habe für ihn geschwärmt wie alle Mädels damals, er war so süß mit seinen blonden Haaren. Habe meinen Sohn nach ihm genannt. Heute kennt ihn kaum noch jemand, denn kurz danach ertrank er in seinem Pool. Aber ich werde ihn nie vergessen.

Auf Spurensuche in Adenau – 1957 bis 1961

Ausflüge in die Vergangenheit sind einfach grandios. Ich kann nur jedem empfehlen, das zu machen. Im letzten Jahr hatte ich schon meine Geburtsstadt Boppard besucht, dann Bad Kreuznach, wohin ich mit 6 Jahren verzogen war. Und diesmal stand Adenau auf dem Programm. Die Stadt in der Eifel direkt am Nürburgring. Den Ring, den ich in seiner Blütezeit erlebt habe.

Gestern hatte ich mir spontan ein Zimmer im Blauen Eck für heute reserviert. Und im Internet nach Chronisten geschaut. Ich bekam schließlich die Telefonnummer eines Herrn Corden und ihn auch gleich an die Strippe. Ein tolles Gespräch. Liegt es am Alter? Jedenfalls macht es ungeheuren Spaß, über früher zu erzählen. Ich erwähnte den Lehrer, der mir immer mit einem Lineal auf die Finger schlug, wenn ich etwas falsch machte. Das war Herr Brüß, sagte Corden sofort. Der Herr war schon älter, als er aus dem Krieg minus ein paar Extremitäten zurück kam. Er schulte um als Lehrer, die damals sehr knapp waren. Aber diese Profession war ihm offensichtlich nicht auf den Leib geschnitten, er war als sehr streng bekannt. Aber zum Glück kam ich in seinen Bereich in der 4. Klasse und wechselte kurz danach ins Gymnasium. Das Gespräch mit Herrn Corden war toll, also fragte ich ihn, ob er vielleicht morgen auf einen Kaffee Zeit habe. Schade sagte er, eigentlich immer, aber morgen ist ganztägig ein Tennisturnier.

Gleich nach dem Frühstück heute fuhr ich also los. Sonne am Himmel, aber kalt, deshalb blieb das Roadster Dach zu. Zunächst ging es nach Koblenz. Aus dem Kriegstagebuch meines Vaters, mit dem ich mich in der letzten Zeit beschäftigt habe, wusste ich, dass das Haus, das Musikgeschäft und Wohnung meines Großvaters beherbergt hatte, in der Schlossstraße 9 in Koblenz lag und 1942 ausgebombt wurde. Ich war nie dort. In google earth sah ich bereits, dass dies eine Superlage ist, lebhafte Geschäftsstraße, die direkt auf das wunderschöne kurfürstliche Schloss mündet. Schade, richtig schade, dass diese Toplage unserer Familie verloren ging.

Dann ging es weiter nach Adenau. Genau diese Strecke, Koblenz – Mayen – Adenau, bin ich in meiner Kindheit oft gefahren, gab es in dem kleinen Adenau nämlich überhaupt nichts, wir mussten einmal im Monat nach Koblenz, um einzukaufen. Am meisten hat sich Ochtendung auf dieser Strecke in mir eingegraben. Wegen dem lustigen Namen und dem Beton-Steine-Werk, das an der Straße lag. Und das gibt es tatsächlich noch. Von Mayen wusste ich noch, dass es eine Burg in der Stadt gibt. Was mir aber nicht mehr klar war, wie groß dieses alte Bauwerk einschließlich Stadtmauer ist. Sehr schön. Aber ich hielt nur, um das Autodach aufzuklappen bei der schönen Sonne.

Und dann war ich in Adenau. Der erste Stopp war an dem alten Gymnasium. Das kleine Haus, das früher mal eine Tuchfabrik beherbergte, war nach dem Krieg Gymnasium bis zur 10. Klasse für etwa 150 Schüler. Später wurde ein neues Schulgebäude errichtet. Ich suchte den Schulhof, ging hinters Haus und traf einen Mann mit Kaffeebecher. Wie sich herausstellte, der Eigentümer. Ein Architekt, viel zu jung, um meine Erinnerungen zu teilen. Aber er sagte, dass hin und wieder Menschen kamen und sagten, sie seien hier zur Schule gegangen.

Weiter gings zum Blauen Eck. Dieses Adenauer Traditionshotel in einem schönen Fachwerkhaus liegt zentral am Marktplatz und es existierte wirklich auch schon zu meiner Zeit. Da hatte ich es natürlich nur ehrfürchtig von außen angeschaut. Mein Einzelzimmer ist klein und zweckmäßig, aber die Location bringts.

Zunächst lief ich alle altvertrauten Wege ab. Unglaublich viel hat sich verändert. Weg, einfach weg, ist der Bahnhof, der unheimlich wichtig war für uns Kinder, weil der Holzplatz dahinter, wo die Baumstämme lagen, die die Franzosen als Reparationsleistung abgeholzt hatten, unser Spielplatz war. Die Gleise sind verschwunden, an dieser Stelle nun ein Gewerbezentrum. Die alte Volksschule stand noch, wo uns der Lehrer Brüß auf die Finger klopfte. Und im Musikunterricht auf der Geige spielte. Dann kam ich zu der Bäckerei Lehmann. In der Auslage Nussecken. Wenn das mal keine Kindheitserinnerung ist. Wir hatten in Dümpelfeld Bekannte mit einer Bäckerei. Spezialität dort Nussecken, mit denen ich mich immer vollessen konnte, wenn ich dort war. Also hinein. So eine Enttäuschung. Absolut trocken und hart, von Nüssen kaum eine Spur. Aber dann! Zwei ältere Damen kamen. Älter heißt, nicht mehr ganz so jung wie ich. Ich fixierte sie mit Blicken, wartete auf den geeigneten Augenblick. Und dann nichts wie hin auf meine Opfer! Aber das war eine gute Beute für beide Seiten. Ich hatte eine echte Adenauerin erwischt. Mit zwei Tortenstücken auf dem Teller. Um es kurz zu machen, die Torte war eine Stunde später immer noch auf dem Teller. Aber dafür haben wir beide, plus ihre schweigsame, weil nicht eingeborene Begleiterin, liebevoll in der Vergangenheit geschwelgt und alle bekannten Namen durchgekaut. Ja, die Gunhild. Die hat doch den Sohn von Uhren Theisen geheiratet, und so. Xmal wollte ich gehen, sie ihrer Torte und dem kalten Kaffee überlassen, aber immer noch fiel uns was ein. Es war toll.

Ein Grund unter anderem, den ich hier recherchieren wollte, war der Verbleib von Detlev. Ich war etwa 12, er kaum älter. Wir lernten uns kennen, sind in den Wäldern herum gestromt. Sonst war nichts. Wir waren ja gerade 12. Eines Nachmittags waren meine Eltern nach Koblenz zum Einkaufen gefahren, ich allein zu Hause. Bat Detlev, vorbei zu kommen. In der Post, wo wir im 1. Stock wohnten. Wir haben uns nur unterhalten, waren ja Kinder, wenn auch auf der Schwelle zur Pubertät. Dann hörte ich ein Auto. Meine Eltern. Detlev konnte nicht weg, ohne gesehen zu werden. Also ging er in den 2. Stock, wartete bis meine Eltern in der Wohnung waren. Ich ging ins Bett und tat so, als schliefe ich. Kurz danach klingelte es. Die Nachbarn von oben. Klärten meine Eltern über den Jungen auf, der oben gewartet hatte. Ein Donnerwetter brach los. Detlevs Eltern wurden benachrichtigt. Jeder Kontakt verboten.

Kurz danach zogen wir um nach Mainz und ich habe Detlev nie wieder gesehen. Aber er hat einen Eintrag in meinem Poesiealbum hinterlassen, inklusive einem Selbstporträt von sich.

Ich hatte Detlev schon Jahre im Internet gesucht. Sein Name ist sehr selten. Aber keine Chance. Es gibt ihn nicht. Also wollte ich in Adenau nachforschen. Jeder erinnert sich an seinen Vater, den Zahnarzt Dr. Moussie. Auch an den Sohn. Aber was er heute macht weiß niemand.

Auch die älteren Damen erinnerten sich sehr gut an ihn. Ein Tunichtgut. Hatte er nicht ein Baby mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf? Durfte es aber nicht heiraten, weil nicht standesgemäß. Dann hat er Adenau verlassen und keiner weiß etwas.

Es war einfach toll im Café, aber irgendwann riss ich mich los und ging zurück ins Hotel. Zum Blauen Eck gehört ein sehr gutes Restaurant, aber ziemlich teuer. Die Damen hatten mir zum Italiener Aviano gleich gegenüber geraten. Also nichts wie hin. Bekam einen kleinen Einzeltisch. Daneben eine große Herrenrunde. Ältere Semester. Trainingsanzüge. Tennistaschen.

Ich stand auf, fragte, ob es einen Herrn Corden gäbe. Natürlich. Wir setzten uns kurz zusammen. Er sagte, dass er auch ein wenig recherchiert habe. Detlev hatte zusammen mit 2 weiteren Jungs zu den Tunichtguten von Adenau gehört. Aber keiner weiß Bescheid über seinen Verbleib.

Ich setze mich zurück an meinen Einzeltisch und bestelle. Definitiv ein guter Tipp der alten Damen. Es ist wohl das Inlokal der Einheimischen. Die Ortselite trifft sich hier, das Essen ist super und preisgünstig. Ich stelle die erst Montag begonnene Diät auf „weiteres“ und bestelle Vorspeise und Pizza. Ein Gedicht. Hätte ich nicht in Adenau bleiben sollen?

Nein, wohl eher nicht. Die Alteingeborenen sind tatsächlich fast alle weggegangen, neue sind nachgekommen. Adenau hat sich verändert. Bahnhof und Gleise sind verschwunden, Aldi und Lidl haben Einzug gehalten. Und die Stadt Adenau hat damals wie heute knapp 3000 Einwohner.

Familiengeschichte

Über einen Monat bin ich jetzt schon aus Florida zurück und meine Blog-Leser haben nichts von mir gehört. Das hat einen Grund. Ich habe beschlossen, meine Familiengeschichte zu schreiben. Inzwischen bin ich die älteste Überlebende in der Familie, die Matriarchin sozusagen, und ich, der ich nie was von Familie wissen wollte, habe plötzlich das Gefühl, ich muss etwas an meine Nachkommen überliefern. Muss ihnen zeigen, wie das Leben damals war. Meine Enkelin wird in diesem Jahr 18 Jahre alt und manchmal, wenn ich irgendein Detail von früher erwähne, ist sie ganz erstaunt. Kennt das Leben damals nicht. Und auch nicht die Familienmitglieder, die inzwischen verstorben sind. Und nun klebe ich 12 Stunden täglich am PC und bin fasziniert.

Als meine Mutter im Jahr 2002 verstarb, Vater bereits 1996, musste ich die Wohnung ausräumen. Natürlich gab es viele Erinnerungsstücke. Vor allem Fotoalben. Aber ich hatte wenig Platz zur Aufbewahrung, aber auch irgendwie ein gestörtes Verhältnis zu meiner Familie. Ich glaube, das geht vielen so aus meiner Generation. Ich wollte nichts von der Vergangenheit wissen und warf vieles weg. Zum Beispiel gab es ein Fotoalbum mit Bildern, die mein Vater während seines Kriegsdienstes gemacht hatte. Weggeworfen. Vernichtet. Aufgehoben habe ich jedoch einige Urkunden, die er im 3. Reich für seinen Ariernachweis benötigte, und es gab auch drei Kriegstagebücher. Sie waren in Sütterlin geschrieben, eine Schrift, die ich nicht lesen kann. Die deutsche Sütterlinschrift wurde ab 1915 in Preußen eingeführt. Sie begann in den 1920er Jahren die bis dahin übliche Form der deutschen Kurrentschrift abzulösen. In der Folge des Normalschrifterlasses wurde allerdings auch sie mit einem Rundschreiben vom 1. September 1941 verboten. Deshalb habe ich nie in diese Bücher geschaut.

Aber dann begann ich mit dem Aufschreiben der Familiengeschichte. Und sofort rückten diese Kriegstagebücher in den Focus. Ich bin Ende 1947 geboren, es war also vor meiner Zeit. Zuhause hat er nie über die Kriegszeit gesprochen. Ich wollte wissen, was darin stand. Zunächst versuchte ich es im Bekanntenkreis, dann gab ich eine Suchanzeige in facebook auf. Das Ergebnis war eher enttäuschend. Zwar meldeten sich viele, die angaben, Sütterlin lesen zu können, aber wenn es wirklich ernst wurde, ein Treffen vorgeschlagen, dann löste sich alles im Nichts auf. Nur wenige Bekannte blieben zurück. Eine Enttäuschung war auch ein Besuch im Altersheim. Dort lebt eine ehemalige Hausbewohnerin, inzwischen 90 Jahre alt, geistig fit und intelligent. Sie kann es lesen, aber … sie hat keine Zeit. Dann erinnerte ich mich an das Internet. Dort gibt es Foren für wirklich jeden Zweck und ich geriet an das Forum der Wehrmacht. Nicht alle Reaktionen waren hilfreich, aber ich fand Ludwig. Und das war ein Geschenk. Ich fotografierte Seite um Seite, schickte die Fotos an Ludwig und er sandte mir am nächsten Tag den entzifferten Text zurück. Ich habe den nicht einfach eingetragen, sondern Wort für Wort mit dem Buch verglichen. Und quasi über Nacht konnte ich Sütterlin immer besser lesen. Zwar waren immer noch einige Wörter fraglich, aber wieder half mir Ludwig. Von den drei überlieferten Büchern war zunächst das dritte und dickste fertig, denn es entstand gerade in der Übergangszeit von Sütterlin auf Normalschrift und ich konnte das meiste lesen. Das zweite Buch ist mit dem heutigen Tag auch fertig, es wurde zu großen Teilen von Ludwig entziffert, nur zum Teil von mir. Noch blieb aber das erste Buch. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, den mir doch unbekannten Ludwig zu überfordern, auch war das Buch sehr viel undeutlicher, sehr eng mit Bleistift geschrieben und auf Fotos nicht gut zu erkennen. Ludwig empfahl mir, Diana hinzuzuschalten. Sie ist Moderatorin in diesem Forum und eine Expertin für Sütterlin. Wie sich bald heraus stellte, aber auch für alles, was mit der Kriegszeit zusammenhängt. Ich schrieb sie an. Diana sagte mir ihre Hilfe zu, allerdings nur, wenn sie das Buch im Original erhält. Das macht Sinn, denn die Fotos sind wirklich zu schlecht. Also habe ich es ihr nun geschickt und bereits den ersten Teil zurück erhalten, ohne jede unentzifferbare Lücke. Super. Ich freue mich nun täglich auf die Fortsetzung.

Mich fasziniert der Inhalt der Bücher ungeheuer. Mein Vater war bei der Abwehr. Er durfte über seinen Dienst natürlich nichts schreiben, es geht hauptsächlich um seine Freizeit. Er war während des Krieges mehr im Kino oder Café als ich in meinem ganzen Leben. Er hatte einfach Glück, denn sein Dienst als Funker hielt ihn doch um etliche Distanz von der Frontlinie entfernt. Die ersten Bomben während seines Kriegsdienstes erlebte er 1943. Oder aber auf dem Heimaturlaub. Er schrieb während eines langen Genesungsurlaubs ausführlich, wann genau es täglich Fliegeralarm gab. Natürlich kennen wir alle die Geschichte des 2. Weltkrieges aus dem Unterricht oder dem Fernsehen. Aber dieses persönliche Buch zu lesen ist wieder etwas ganz anderes. Im Fall meiner Familie sieht es oft so aus, als hatte meine Mutter den schwereren Teil, musste sie doch mehrmals täglich mit einem kleinen Kind Zuflucht im Schutzraum suchen, während mein Vater kaum Feindberührung hatte.

Aber total überwältigt war ich von der Erkenntnis wie ähnlich mein Vater und ich uns sind. Das war früher nie so klar geworden, in unserer Familie gab es wenig Kommunikation. Die meisten kennen mich. Ich reise durch die nordafrikanischen Länder, früher sehr abenteuerlich, heute etwas komfortabler, und ich habe es schon immer geliebt, darüber zu schreiben. Zunächst ins Tagebuch nur für mich; Internetblogs, die alles öffentlich machen, gab es damals noch nicht. Dann als Länderberichte für den Saharaclub. Und dann sehr bald in der Form des Reiseführers. Und nun muss ich erkennen, dass mein Vater genau das gleiche gemacht hat. Er reiste und schrieb darüber. Wenn er mal längere Zeit in relativer Sicherheit in einem Büro in Berlin, Warschau, Wien oder Krakau Dienst tat, dann langweilte er sich und meldete sich auf einen Einsatzort in der Ferne. Das Reisen war sein Abenteuer und wenn es noch so schwierig war. Oft reiste er mit der Eisenbahn und das war nicht so einfach wie heute. Schlafen mussten sie oft mit oder ohne Stroh im ungeheizten Güterwagen, standen stundenlang in irgendwelchen dunklen Ecken herum. Wenn ein LKW benutzt wurde blieb er ziemlich oft im Schlamm stecken. Aber all das scheint er mehr geliebt zu haben als den stationären Dienst, der ihm schnell langweilig wurde. Wie sehr kann ich mich doch mit ihm identifizieren. Er nennt die Orte auf seiner Strecke mit Namen, gut für mich, denn ich versuche, seine Reiseroute in einer Skizze zu zeigen. Wenn es auch nicht leicht ist. Viele der besuchten Länder gehörten damals zum deutschen Reich und die Orte hatten deutsche Namen, die heute ganz anders lauten. Aber ich bin doch ganz gut klargekommen.

Ich rate jedem, beschäftigen Sie sich mit Ihrer Familie, solange noch Ältere leben, die Sie fragen können und warten Sie nicht so lange, bis alle gestorben sind. Und wie sehr wünsche ich mir heute, ich hätte das Fotoalbum aus dem Krieg nicht weg geworfen.

Zu Anfang seiner Soldatenzeit war mein Vater übrigens ein Dreivierteljahr in Nordspanien stationiert. Dabei lernte er auch Spanisch. Es war wohl die schönste Zeit seines ganzen Lebens bis dorthin, vor dem Krieg konnte er ja nicht viel reisen. Von daher blieb ihm eine Liebe zu Spanien, die uns nach dem Krieg schon 1954 zu einer Reise durch das Land führte. Und auch danach habe ich noch sehr oft die Schulferien auf Reisen durch Frankreich, Spanien, Portugal und Italien verbracht.

Übernachtung im Freien auf unserer ersten Reise nach Spanien 1954

Boppard – wo ist nur mein Kindergarten

Aber zwei alte Fotos waren immer noch nicht gefunden, die von meinem Kindergarten. Hier sieht man uns ordentlich in Reih und Glied spielen, natürlich auch hier wieder ohne Spielgeräte, und auf dem zweiten Bild nach einer Theateraufführung mit der Mauer des Kindergartengebäudes im Hintergrund. Beides gelang mir nicht zu finden.

Schließlich machte ich mich auf den Weg zur Stadtbücherei, um Hilfe zu suchen. Dort fand ich eine noch recht junge Bopparderin, die sich natürlich nicht erinnern konnte, aber dafür auf viele historische Bücher Zugriff hatte. Und eine lange Recherche ergab, dass sich der Kindergarten im ehemaligen Waisenhaus befunden haben musste. Ein Teil dieses historischen Gebäudes steht noch, es ist dort sowie in vielen neuen Anbauten, nun das Seniorenstift zum Heiligen Geist untergebracht. Aber die Mauer auf meinem Bild steht nicht mehr, ist einem Neubau gewichen. Der Platz war leichter zu identifizieren und ich musste mal über mich schmunzeln. Bei diesem Besuch war ich xmal über den Platz gelaufen, aber habe ihn nicht wiedererkannt. Das liegt erstens daran, dass er heute mit Autos zugeparkt ist, und zweitens, dass dort ein Kiosk ist, vor dem immer einige Trinker stehen und ich schon deshalb kein Foto machen wollte. Aber es war ganz klar unser Platz. Was tun? Schließlich sprach ich die Trinker an, speziell die Frau unter ihnen. Erklärte worum es mir ging. Sie waren sofort sehr nett und hilfsbereit, boten sich an, mich zu fotografieren und hatten auch nichts dagegen auf mein Foto zu kommen oder den Platz zu räumen. Manchmal steckt man einfach voller unbegründeter Vorurteile.

Puh! Meine Erinnerungsarbeit war getan. Alle Fotos und Gedächtnisfetzen wieder gefunden. Das hat einen gebührenden Abschluss verdient und was wäre da schöner, als der Besuch eines Gutsausschanks? Als alte Rheingauerin möchte ich nicht so ein großes Weinrestaurant, wo die Touristen hingehen, sondern etwas kleines urtypisches, wo ich vielleicht sogar alte Bopparder treffe. Das Weingut Rolf Bach macht sein Wohnzimmer bereits um 16 Uhr auf und ich war schon bald da. Es gibt zwei winzige Räume, die jeweils über drei Tische verfügen. Einer war besetzt, also setzte ich mich an einen freien, aber schon bald gingen Gespräche hin und her. Dann aber kamen drei Personen in meinem Alter und setzten sich zu mir, obwohl noch ein Tisch ganz frei war. So liebe ich es. Natürlich fragte ich sehr bald, ob es alte Bopparder sind. Nein, sind sie nicht. Die eine Frau war in Wiesbaden geboren. Man glaubt es ja kaum, mein Wiesbaden. Aber sie wohnen schon 30 Jahre in Boppard und wo? Natürlich in der Sabelstraße. Wenn auch nicht in meinem kleinen Reich, sondern da, wo die Sabelstraße an der Burg wieder hinunter geht, also keine 100 m von unserem Haus entfernt, dennoch bin ich kaum in diese Richtung gekommen. Es war so ein wunderschönes Gespräch, das sich entwickelte, und als sie dann erzählten, dass in dieser Gastwirtschaft die Oma kocht und es immer ein anderes traditionelles Gericht gibt wie Düppekuche und gefüllte Klöße, da war ich in meinem Element. Genau das hatte meine Mutter immer gekocht und noch viele andere leckere Speisen meist ohne Fleisch, das wir gar nicht vermisst haben. Ich habe mein altes Boppard wiedergefunden und am liebsten würde ich auf der Stelle wieder zurück ziehen. Diese kleine Stadt mit nur 9000 Einwohnern bietet einfach alles, was ich mir von einer Wohnstadt erträume. Der Abschied war lebhaft, wir gingen zusammen zu dem Auto, das sie auf meinem Kindergarten-Spielplatz geparkt hatten, um die 500 m in die Sabelstraße zurück zu fahren. Ich bin so traurig, dass wir uns nicht öfter treffen können, ach wäre ich doch schon in Boppard.

Später Telefonat mit meiner Kusine, die auch schon lange nicht mehr in der Stadt wohnt. Sie meinte, sie träumte auch schon davon, im Alter mal in das Seniorenstift an meinem alten Kindergarten umzuziehen. Ich mach mit, sofort. Aber erst im Alter, das ja noch unendlich weit weg ist. Vorher müssen wir erst noch sehr viel reisen.

Und hier geht es weiter: https://marokkoblog.edith-kohlbach.de/auf-spurensuche-in-bad-kreuznach-1954-bis-1958/

Boppards Innenstadt

Da meine Welt die Sabelstraße war habe ich wenig Erinnerungen an die Innenstadt, nur an das Rheinufer, wo wir Sonntags Spaziergänge mit der Familie unternahmen. Die Stelle, von der dieses Foto aufgenommen wurde, war schwer zu finden. Klar war, es ist am Rhein, nur fand ich keine Stelle, von der der Turm der Severuskirche zu sehen war mit dem großen Haus mit dem markanten Giebel im Vordergrund. Aber schließlich fand ich das Haus, nur wenige Schritte von meinem Hotel Ebertor entfernt, aber die Rheinfront wurde später zugebaut und der Turm ist nicht mehr zu sehen.

Meine Kusine Renate, fast im gleichen Alter, wäre eine ideale Spielkameradin gewesen. Aber sie wohnte in der Oberstraße, etwa 1.000 Meter entfernt. Das war zu weit für mich und ich bin nur manchmal mit meiner Mutter zu einem Besuch hingegangen. Ich erinnere mich an das Haus, aber es sieht heute sehr viel schöner aus. Nach dem Krieg hatte man kein Geld, um sein Haus schön zu verputzen.

Aber ich erinnere mich, dass wir von dort manchmal gemeinsam auf den Angert gingen. Dort vor der evangelischen Kirche war der einzige Spielplatz, den es gab, ich glaube außer ein paar Bänken gab es nur einen Sandkasten. Ich suchte und suchte, fand die Kirche, aber keinen Angert, obwohl er noch immer der Straße ihren Namen gibt. Eine Begegnung mit einem 90jährigen Bopparder gab dann die Erklärung. In der Innenstadt sind viele neue Straßen gebaut worden, rund um die Bahn, auch Unterführungen und Parkhäuser. Dabei wurde ein Stück vom Angert abgeschnitten und es bleibt nur eine kleine Wiese vor der Kirche. Aber dafür gibt es etwas anderes, sehr beeindruckendes, was ich als Kind nie wahr genommen habe und mich sehr erstaunt hat. Die Vielzahl der römischen Ruinen, die gerade an dem Angert zu sehen sind und gut gepflegt werden. Hier folgt eine kleine Bilderauswahl vom heutigen Boppard, das unbedingt einen Besuch wert ist.

Die Sabelstraße (Boppard) im Bildervergleich

Dieser Besuch in Boppard war wunderschön. Ich hatte mir die wenigen Fotos aus der damaligen Zeit ausgedruckt und wollte die Stellen wiederfinden, die auf den Fotos zu erkennen sind. Ich wohnte ja nur bis zum 6. Lebensjahr in Boppard; war gerade an Ostern eingeschult worden und musste schon im Sommer 1954 die Schule wieder verlassen, da wir nach Bad Kreuznach zogen. Deshalb ist mir aus der Schulzeit nichts mehr bekannt, ich kann mich noch nicht mal mehr an die Schule erinnern. Allerdings an meinen Kindergarten.

Ich wohnte bei diesem Besuch im Hotel Ebertor. Es liegt direkt am Rhein, wo wir damals unsere Sonntagsspaziergänge machten und ich erinnere mich an das Hotel. Aber man hat es nur ehrfürchtig angeschaut, es war für unsereinen doch viel zu groß und zu teuer. Ganz klar führte mich mein erster Weg in die Sabelstraße. Das Haus der Großmutter, das sie zusammen mit dem Großvater wohl um 1913 dort gebaut hatte, war lange im Familienbesitz und ist erst kürzlich verkauft worden. Es war wie viele Häuser im Ort massiv aus Feldsteinen gebaut, aber hat nun unter dem neuen Besitzer sein Aussehen stark verändert. Damals gab es auch noch einen Vorgarten und ein Mäuerchen, auf dem wir gerne saßen und viele Fotos dort aufnahmen, aber die Stadt hat davon schon vor einiger Zeit ein Stück abgeschnitten, um einen Bürgersteig anzulegen.

 

Die meisten der wenigen Kinderfotos stammen alle aus der Sabelstraße und es ist recht einfach, die Stellen zu finden. Am oberen Ende ist die Sabelburg, als Kind war ich nie darin und auch heute noch nicht, aber der Turm des mächtigen Tores ist auf vielen Fotos zu sehen.

Auch dieses Foto ist von der gleichen Stelle. Der Briefkasten ist weg, aber die Schraublöcher noch zu sehen.

Von unserem Haus an der Sabelstraße abwärts ging es zum Fraubach, das Gebiet meines damaligen „Spielplatzes“, hier ein schönes Foto von meiner Schwester und mir an Fastnacht. Das große Haus im Hintergrund steht immer noch.

Und wie schon gesagt, unten am Beginn der Sabelstraße lag unser Garten. Davon gibt es leider kein altes Foto. Der Garten exisitiert noch heute, gehört aber zu einem Neubau gleich daneben, und der abenteuerliche Weg dorthin exisitiert ebenfalls noch. Genau wie der Weg, der nach oben um den Garten führt, alles die Schleichwege meiner Kindheit und es gibt sie noch.

 

 

 

Auf Spurensuche in Boppard – 1947 bis 1954

Ein Jubeln ging durch das Krankenhaus. Mitten in der „schlechten Zeit“, also nach dem Krieg, als es wenig zu essen gab, wurde endlich mal ein pralles Baby geboren. Natürlich kann ich mich nicht wirklich an das Geschrei erinnern, aber es war so etwas besonderes, dass es mir noch oft erzählt wurde. Genauso wie der Ärger meiner Schwester, die 9 Jahre lang ihr Dasein als Einzelkind genoss und die böse war, weil meine Mutter ausgerechnet am Nikolausabend ins Krankenhaus musste.

 Auf dem ersten Bild seht ihr meine Oma mit mir und einer Kusine, auf dem zweiten mich zusammen mit meiner Mutter und zwei Damen, die gleichzeitig mit ihr im Krankenhaus entbunden haben.

Wir wohnten im Haus meiner Großmutter. Es hatte drei Stockwerke. Das Erdgeschoss bewohnte meine Oma, auch einen Opa gab es damals noch, aber er starb recht früh und ich kann mich nur wenig erinnern. Hier war auch das einzige WC. Im Stock darüber hatten wir zwei Zimmer und eine Wohnküche, und im großen Untergeschoss war die Waschküche, wo wir Samstags alle in einer Zinkwanne badeten, natürlich nacheinander im gleichen Wasser, das im großen Wäschekessel erhitzt wurde. Von hier aus ging es in den Garten und zum Hühnerstall. Und zur Wiese, wo die weiße Wäsche immer zum Bleichen ausgelegt wurde. Okay, hier auf dem Foto hatte ich die Wanne noch für mich allein.

Aus dieser Zeit kann ich mich gut an die Dämmerstunde erinnern, die ich am liebsten bei der Oma verbrachte. In der Wohnküche gab es ein Sofa, dort saß ich, Oma werkelte herum und erzählte Geschichten; am Waschbecken lag in einem Wasserglas ihr Gebiss. Strom war teuer und wurde gespart, deshalb wurde das Licht erst angemacht, wenn es wirklich ganz dunkel war. Im Backofen des großen Kohleherds briet sie manchmal Äpfel, deren Zimt-Duft durch das ganze Haus zog. Manchmal durfte ich auch bei Oma im großen Bett schlafen, was ich sehr genoss. Im Bett hörte ich immer die Schiffe tuten, die Nebelhörner, die heute in Zeiten des Radars überflüssig geworden sind. Diese Töne haben sich mir stark eingeprägt, im Gegensatz zu der Eisenbahn, die ja ziemlich nahe vorbei fuhr und die ich eigentlich nicht hörte. Ich weiß auch nicht genau, warum die Schiffe in ihre Hörner bliesen, aber vermutlich war es, weil der Rhein bei Boppard eine scharfe Biegung macht und sich die Schiffe ohne Radar nicht gut sehen konnten. Wie gerne wäre ich einmal mit einem solchen Schiff gefahren; mein Patenonkel war Binnenschiffer und fuhr den Rhein herauf bis Holland, aber ich durfte nie mit.

Meine Welt bestand damals aus der Sabelstraße, von unserem Haus ging es 125 m leicht bergab zum Fraubach, wo unser Garten lag und die Sabelstraße begann. Das war unser Spielplatz, dort verbrachte ich mit den Nachbarskindern und vor allem mit dem wilden Heribert den Tag. Sandkasten, Schaukel, so etwas gab es nicht. Aber wir liebten unsere Straße. Ich besaß noch vor einem Roller einen Puppenwagen, und was gab es schöneres, als sich darauf zu setzen und den Berg herunter rollen zu lassen. Damals fuhren dort sehr selten Autos, alle noch mit schwarzem Schild und weißer Schrift, das Kennzeichen der französischen Zone. Und von Unfällen ist mir nichts bekannt. Ich fand die Strecke endlos lang, aber als ich nun für ein Wochenende nach Boppard kam, nach Jahrzehnten, sah ich wie kurz doch in Wahrheit diese Strecke war, wie klein meine Welt. Auch unser erstes Auto hatte im Jahr 1953 dieses schwarze Nummernschild.

 

 

Auf Spurensuche in Bad Kreuznach – 1954 bis 1958

Im Herbst 1954, ich war an Ostern gerade eingeschult worden, musste ich meinen Geburtsort Boppard verlassen und zog mit meinen Eltern nach Bad Kreuznach. Mein Vater arbeitete auf der Post und wurde öfters versetzt. Wir zogen in eine 3-Zimmer-Wohnung in einem Neubaublock gleich unterhalb des Friedhofs, erst viel später wies mich ein Klassenkamerad darauf hin, dass es ziemlich unheimlich ist, am Friedhof zu wohnen. Ich empfand das aber gar nicht. Die Wohnung, in der ich mir ein Zimmer mit meiner Schwester teilte, war „State of the Art“, sie hatte ein richtiges Badezimmer. Bis dahin hatten wir in Boppard im Einfamilienhaus meiner Großmutter zwei Zimmer bewohnt. Der einzige Klo war eine Etage tiefer, zum Waschen wurde die Spüle in der Küche benutzt und als Badewanne diente am Samstag eine Zinkwanne im Keller. Und auch der altmodische Kohleherd war gegen einen modernen Gasherd ausgetauscht worden, was mir als Kind jedoch ziemlich schnuppe war. Der alte Kohleherd hatte doch viele Vorteile. Es war immer warmes Wasser da und im Backofen lagen oft herrlich duftende Bratäpfel.

Die Zeit in Kreuznach war wild und wunderschön. Das Gelände unterhalb unserer Neubau-Siedlung war nicht bebaut und voller Unkraut, einen schöneren Spielplatz kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Nach den Hausaufgaben ging es sofort hinaus, die Nachbarskinder warteten schon und bis zum Abendessen sahen uns unsere Eltern nicht mehr.

Ganz wichtig waren damals die Amerikaner. Kreuznach hatte eine amerikanische Kaserne und die Soldaten waren ein bedeutender Bestandteil des Lebens. In der Amisiedlung waren die einzigen richtigen Spielplätze und an St. Martin klingelten wir dort mit unseren Laternen, denn bei den Amis gab es köstliche Süßigkeiten. Von Halloween hatte damals noch nie einer gehört. Meine erheblich ältere Schwester hatte dann auch irgendwann einen amerikanischen Freund, das war die absolute Spitze. Er kam öfter zu uns und brachte uns nicht etwa ein paar Süßigkeiten mit, sondern volle Kartons, die man sonst nur aus den Auslagen der Geschäfte kannte. Es war ja alles noch sehr kurz nach dem Krieg und eines Tages fand ich sogar mitten auf der Straße vor dem Friedhof eine richtige Pistole in einem Holster. Brachte sie gleich nach Hause und gab sie meinem Vater, was dann daraus wurde habe ich nie erfahren.

Wenn wir am Morgen in die Schule gingen verließen wir die Siedlung auf einem schmalen Fußweg den Berg hinab, also quer über unseren Abenteuer-Spielplatz und stießen gleich auf den mächtigen roten Kasten der Ringschule. Gefühlt waren das alles richtig lange Wege. Aber noch bevor es in die Schule ging stoppten wir natürlich an dem kleinen Ecklädchen genau gegenüber, eine ganz wichtige Institution. Wer es zu ein paar Groschen Taschengeld gebracht hatte, konnte sich da mit Süßigkeiten eindecken und am beliebtesten war der rosa Bubble Gum, mit dem man so schöne Blasen erzeugen konnte. Was Besseres gab es nicht. Auf dem Pausenhof konnten wir dann vergleichen, welche Schätze jeder hatte und auch hier waren die Ami-Süßigkeiten die besten. Ich vergesse nie den Tag, als ein Mädel kleine Riegel mitbrachte, die sehr gut schmeckten. Wir erfuhren erst sehr viel später, dass es Hundekuchen waren. Aber toll war, dass wir an Fastnacht immer im Kostüm zur Schule kommen durften.

Ein für mich weniger erfreuliches Detail war die Kirche. Es war ja die Zeit, als meine Erstkommunion bevorstand. Einmal die Woche hatten wir in der Kirche Unterricht und am Samstag mussten wir  dorthin pilgern und beichten. Ich schrieb mir immer zu Hause einen Zettel mit meinen Sünden, damit ich sie nur ja nicht vergesse. Und dann bekam ich ein oder mehrere Vaterunser zur Buße auferlegt. Aber vor der Kirche stand ein wunderschöner Kiosk in Form eines Fliegenpilzes, dort konnte man sich ein Eis kaufen, wenn man es denn zu Geld gebracht hatte. Für kurze Zeit hatte ich eine gute Einnahmequelle entdeckt. Wenn ich morgens die Wohnung verließ standen im Hausflur immer die leeren Milchflaschen. Damals kam noch der Milchmann und stellte die gefüllten Flaschen vor die Tür. Das Geld dafür lag unter der Flasche. Und so bediente ich mich heimlich daran. Bis eines Morgens die Nachbarin am Türspion mich entdeckte und zu meinen Eltern schleppte. Da nahm meine kurze Karriere als Meisterdiebin ein jähes Ende. Und ich konnte wieder eine neue Sünde beichten.

Aber der Gegenpool zu dem lästigen Beichten war natürlich die Erstkommunion. An schönen Kleidchen sparten meine Eltern eigentlich nie und so zogen wir ins beste Geschäft von Kreuznach und suchten ein herrliches weißes Kleid für mich aus. Dazu noch Kniestrümpfe mit Spitzen und weiße Ballerinas, natürlich auch ein Kränzchen fürs Haar, ich fand mich unglaublich schön. Damals konnte man das Kleid zweimal anziehen. Das erstemal natürlich zur festlichen Erstkommunion, aber dann noch einmal zu der großen Prozession durch die Stadt an Fronleichnam.

Doch eines Mittags, als ich gerade aus der Schule kam, es war das vierte Schuljahr, waren meine Eltern ganz ernst und meinten, ich müsse meine Sachen packen. Wir ziehen um. Das war ein unglaublicher Schock. Alle meine Freundinnen blieben zurück und ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir das Leben je wieder Spaß machen könnte.

Gestern nun hatte ich einen Termin in einer Werkstatt in Bad Kreuznach und ich beschloss, das zu nutzen, um die alten Stätten aufzusuchen. Ich hatte meine Adresse als „In der Sandkaut 4“ in Erinnerung, direkt unterhalb des Friedhofs. Der freundliche Autohändler half mir bei der Recherche und schießlich fanden wir heraus, dass die Straße einfach nur Steinkaut hieß. Kreuznach ist gar nicht so groß und so konnte ich ganz gut dorthin schlendern. Ich fand meine Steinkaut und den Friedhof, aber das wilde Gelände unterhalb war weg, hier ist ein Wohnviertel mit kleineren Häusern entstanden, nur ein Kindergarten, den es damals noch nicht gab, hatte in seinem Garten genau noch die wilde Fläche, die ich damals liebte, natürlich etwas kleiner und geschützter.

Die Hausnummer 4 war es nicht, dem Gefühl nach sagte ich mir, dass es die Nummer 8 sein musste. Genau dort, wo wir früher mutmaßlich wohnten, stand eine Frau an einem kleinen Balkon, gar kein richtiger Balkon, an den ich mich nicht erinnerte. Sie klagte darüber, in welch schlimmen Zustand die Wohnungen seien, die Fenster kaputt, das Bad völlig desolat. Die Siedlung sei schon mehrmals verkauft und nichts renoviert worden. Was sich allerdings im Moment ändert, denn der nachfolgende Häuserblock wurde gerade renoviert und von außen isoliert. Deshalb war er auch von Gerüsten und Planen eingehüllt und ich konnte nichts sehen. Erst zu Hause, beim Vergleich meiner alten Fotos, konnte ich erkennen, dass ich in diesem nächsten Block gewohnt hatte, in der Nummer 11. Davon habe ich nun keine neuen Fotos. Aber ist schon interessant, damals State of the Art, heute völlig heruntergekommen. Ja, 60 Jahre sind inzwischen vergangen, eine lange Zeit.

Ich fand dann auch den Fußweg hinunter zur Schule, eigentlich ganz kurz, so hatte ich es damals aber nicht empfunden. Die Ringschule war früher eine Volksschule, heute ist es die Crucenia Realschule. Der mächtige rotbraune Block des Haupthauses steht immer noch, aber im Pausenhof sind viele neue Gebäude hinzu gekommen. Und mein Eckladen hat leider geschlossen.

Die Innenstadt ist sehr stark verändert. Meine Kirche steht natürlich noch, der Fliegenpilz ist verschwunden und das große Postamt gegenüber, in dem mein Vater gearbeitet hatte, ist Neubauten gewichen. Die Post wird nun in einem DHL-Paketshop abgewickelt. Aber etwas anderes habe ich gefunden! Das Café Wonsyld, das allerdings heute von einem anderen Inhaber geführt wird. Ursula Wonsyld ging mit mir in die Klasse und war meine beste Freundin. Vor dem Café war damals noch ein freier Platz und auf diesem Platz, wo heute ein Sraßencafé ist, habe ich damals Fahrrad fahren gelernt. Wir haben oft bei ihr gespielt, auch in der Backstube, ach, es war einfach eine tolle Zeit. Und vielleicht habe ich sogar das Geschäft wiedergefunden, in dem damals mein Kommunionkleid gekauft wurde.

   

Ich erinnere mich noch an ein anderes Detail, an das Ferienlager im Sommer, das bei den Salinen stattfand. Hier ist ein Foto vom Lager damals und der Saline heute, die leider auf keinem alten Foto zu sehen ist.